Musik für einen Stadtteil von Stadtteilkantorat Mümmelmannsberg & Trimum e.V.

In Hamburgs Brennpunktviertel Mümmelmannsberg setzt sich das interreligiöse Gemeinschaftsprojekt für den Abbau von Fremdheitsgefühlen ein und entwickelt gemeinsam mit muslimischen, christlichen und jüdischen Musiker:innen und Künstler:innen musikalische Veranstaltungsformate. Durch gemeinsames Musizieren soll der Vielstimmigkeit von über einhundert Herkunftskulturen im Viertel ein adäquater Ausdruck verliehen werden. Durch den Preis kann das Projekt für ein weiteres Jahr verlässlich fortgeführt werden.

„Das Projekt versetzt einen gesamten Stadtteil in Bewegung. Mit seinem generationsübergreifenden, interreligiösen und interkulturellen Angebot gibt es den vielfältigen Identitäten eine Bühne. Der ganzheitliche Ansatz der InitiatorInnen hat Signalwirkung: Begegnungen zu ermöglichen, ist eine Lebenseinstellung“, sagt die Jury.

29. Oktober 2018

Reportage über Musik für einen Stadtteil.
Wie Musik einen multikulturellen Stadtteil zusammenbringt.

In Deutschland leben Menschen unterschiedlichster Herkunft, Kultur und Religion zusammen. Das Stadtteilkantorat Mümmelmannsberg, ein Verein zur Förderung interreligiöser Kommunikation, versucht, in Zusammenarbeit mit dem interreligiösen Musikprojekt Trimum, Miteinander mit Musik zu fördern.

In der ganzen Welt bringt das Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen und Religionen Konfliktpotential mit sich. Das Stadtteilkantorat Mümmelmannsberg wirkt engagiert dagegen. Mümmelmannsberg, von seinen Bewohnern liebevoll „Mümmel“ genannt, ist eine in den Siebzigerjahren im östlichen Hamburger Stadtteil Billstedt entwickelte Großraumsiedlung mit 19.000 EinwohnerInnen. Der Stadtteil ist räumlich klar begrenzt, verdichtet bebaut und Heimat von Menschen verschiedenster Herkunft – 60% der EinwohnerInnen haben einen Migrationshintergrund. Im restlichen Hamburg wird Mümmelmannsberg als sozialer Brennpunkt betrachtet. Genau das macht „Mümmel“ zu einem Ort für ein ambitioniertes Projekt: Die Entwicklung einer neuen, gemeinsamen Kultur durch Musik.

© Robert Rieger
© Robert Rieger
© Robert Rieger
© Robert Rieger

„Hier gibt es einen Stadtteil, der arm und gesellschaftlich relativ weit abgehängt ist, gleichzeitig aber sehr viel Potential hat.“

Predigerin Christiane Beetz und Pastor Stephan Thieme sind Vorsitzende des Vereins Stadtteilkantorat, unterstützt werden sie von Rabbiner Dr. Moshe Navon, der sich als Ansprechpartner der Liberalen Jüdischen Gemeinde für den Verein engagiert. Auf dem Kirchentag in Stuttgart haben sie den Verein Trimum – Musik für Juden, Christen und Muslime kennengelernt. Trimum wurde 2012 von Bernhard König gegründet, um jüdische, christliche und muslimische Musiker:innen, Theolog:innen, Wissenschaftler:innen und Komponist:innen zur Entwicklung gemeinsamer Konzepte und Veranstaltungsformate für ein friedliches und konstruktives Miteinander der Religionen zusammenzubringen. Was Trimum schon seit einigen Jahren in der Theorie entwickelt, hat das Stadtteilkantorat nach Hamburg geholt. „Hier gibt es einen Stadtteil, der arm und gesellschaftlich relativ weit abgehängt ist, gleichzeitig aber sehr viel Potential hat. Die Ansätze von Trimum können wir hier auf Alltagstauglichkeit testen und weiterentwickeln“, sagt Thieme. In enger Abstimmung arbeiten die beiden Vereine daran, durch Musizieren ein tolerantes Zusammensein zu fördern. Die Mümmelmannsberger:innen werden zum monatlichen offenen Singen eingeladen, einer Art interreligiösem Chor, bei dem Menschen aller Religionen miteinander singen und sakrale Musik teilen. Dabei entstehen neue Ideen und Freundschaften.

Stephan Thieme © Robert Rieger
Rabbiner Dr. Moshe Navon © Robert Rieger
© Robert Rieger
Stephan Thieme © Robert Rieger
Rabbiner Dr. Moshe Navon © Robert Rieger
© Robert Rieger

„Das Haus lädt dazu ein, sich zu öffnen.“

Die religiöse Frage des Stadtteils soll thematisierbar gemacht werden, statt im Privaten kann Begegnung im Evangelischen Gemeindezentrum stattfinden. Der Bau ist eine evangelisch-lutherische Kirche, die aber keine typischen Kirchenassoziationen hervorruft, sondern nüchtern und funktional daherkommt. „Das Haus lädt dazu ein, sich zu öffnen“, bekräftigt Beetz, vom Schulanfängergottesdienst über Benefizkonzerte, interreligiöse Gottesdienste bis zum monatlichen offenen Singen. „Der Verein setzt keine Grenzen. Wir freuen uns über jeden, der von woanders herkommt. Wir haben sogar einen bekennenden Atheisten im Verein“, sagt Beetz. Im Stadtteilkantorat kommt es schon einmal vor, dass ein Imam vor dem Altar, mit dem Kreuz im Hintergrund eine Koransure rezitiert. Oder, dass Rabbiner Navon an einem Pfingstmontag das 200-jährige Jubiläum des liberalen Judentums in Hamburg feiert, weil zurzeit die Synagoge fehlt. „Das muss man sich mal vorstellen“, sagt Thieme begeistert, „an einem Pfingstmontag tanzen die Leute aus dem Iran, aus der jüdischen Gemeinde, die Christen und Atheisten, einfach alle gemeinsam und grooven vor sich hin.“

© Robert Rieger
© Robert Rieger
© Robert Rieger
© Robert Rieger
© Robert Rieger
© Robert Rieger

„Es geht darum, Verschiedenheit auszuhalten, unsere Andersartigkeit in ein positives Licht zu rücken und anderem gegenüber offen zu sein.“

Ein zentrales Langzeitprojekt von Trimum ist auch die Neukonzeption von Liedern, die im interreligiösen Alltag Verwendung finden können: in Kindergärten, Schulen und Altenheimen, bei religiösen Festen oder in der Arbeit mit Geflüchteten. Wie muss ein Lied beschaffen sein, damit es für unterschiedliche Religionen funktioniert? „Der Trick ist, es wird nicht auf Krampf versucht, alle Lieder für alle Religionen gleichwertig singbar zu machen“, erklärt Beetz. „Es geht darum, die Verschiedenheit auszuhalten, unsere Andersartigkeit in ein positives Licht zu rücken und anderem gegenüber offen zu sein.“ Die Lieder werden teilweise komponiert oder bestehende Melodien werden umgedichtet, damit sie trialogisch gesungen werden können. Kommt es dabei auch zu Konflikten? „Wir beurteilen nicht die Theologie der Christen und umgekehrt. Wir respektieren unsere Grenzen“, entgegnet Navon bestimmt.

Christiane Beetz mit Teammitgliedern © Robert Rieger
© Robert Rieger
Christiane Beetz mit Teammitgliedern © Robert Rieger
© Robert Rieger

„Wenn wir im offenen Singen sitzen und uns gegenseitig unsere Wurzeln vortragen, dann macht das etwas mit uns“, erklärt Beetz ihr Engagement. Musik eigne sich besonders als verbindendes Element, als Grundlage, sich menschlich anzunähern. Das Konzept ist zukunftsweisend – „durch die Globalisierung muss man sich mit anderen Kulturen und Religionen auseinandersetzen. Je mehr sie präsent ist, desto notwendiger wird es, sich mit ihr zu befassen. Da hat man viel zu lange die Augen zu gemacht.“ Mit der Unterstützung des The Power of the Arts Awards soll jetzt an der Nachhaltigkeit des Projektes gearbeitet werden. Es soll fortgeführt werden und auch Inspiration für andere sein, ähnliche Konzepte umzusetzen. Thieme glaubt fest daran, dass es funktionieren kann – auch woanders. „Wir wollen anderen Menschen das Handwerkszeug mitgeben, auch in ihrer Region Stadtteilkantorate aufzubauen.“

„Wenn wir im offenen Singen sitzen und uns gegenseitig unsere Wurzeln vortragen, dann macht das etwas mit uns.“